May
4
2015

DDR-Schlager: trivial oder genial?

Schlager_Beitragsbild

Das gab es nur in der DDR: Vom himmelblauen Trabant über den Lipsi-Schritt bis hin zu versteckten Botschaften trug der Schlager des Ostens vielfältige Blüten. Wie hat er sich unter den gegebenen Umständen entfaltet – und was hat er für die Menschen geleistet?

Text: Kirsten Kühnert (Sängerin und Komponistin)

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Der Schlager, so steht in einem bekannten Online-Nachschlagewerk zu lesen, habe einfachste musikalische Strukturen und triviale Texte, die an das Harmonie- und Glücksverlangen des Zuhörers appellierten. Harmonie und Happy End also, garniert mit Herz und Schmerz und viel Lebensfreude. So trällerte Sonja Schmidt in der DDR einst vom himmelblauen Trabant, der durch das Land düst, während Wencke Myhre im Westen von einem knallroten Gummiboot schwärmte, mit dem sie hinausfährt und erst im Abendrot wieder nach Hause kommt.

„Aufbau-Walzer“ für die Stalinallee

In der DDR, so wünschten die Regierenden, sollte der Schlager ein eigenes Gesicht bekommen, geprägt von sozialistischer Moral und Solidarität, ohne dabei an aktuelle Engpässe zu erinnern. Mit dieser Vorgabe entstanden einige Schlagerkuriositäten: Zum Bau des ersten Hochhauses in der Stalinallee erschallte der „Aufbau-Walzer“ und zum Ankurbeln der Landwirtschaft jagten „Fritz, der Traktorist“ und der „Mais-Dixie“ durch den Äther.

In den ersten Jahren nach Gründung der DDR tummelten sich hauptsächlich Westinterpreten in den jungen Ost-Medien. Dennoch gab es einen regen musikalischen Austausch: So startete Julia Axen ihre Karriere bei der westdeutschen Plattenfirma Polydor, Sonja Siewert und Herbert Klein aus Ostberlin und das Westberliner Geschwisterpärchen Ilse und Werner Hass bildeten „Die Singenden Vier“, und Bärbel Wachholz ließ mit ihrer schönen Stimme hüben wie drüben die Herzen höher schlagen.

Helga Brauer_Web

Der Lipsi-Schritt biegt falsch ab

Die Grenzschließung im August 1961 änderte alles. Von nun an bauten die sozialistischen Länder ihre Kooperation gezielt aus, Song-Festivals entstanden: das „Festival des polnischen Liedes“ in Opole (1963), „Sopot Festival“ (1977) oder in Bulgarien „Goldener Orpheus“, den Dagmar Frederic 1977 gewann. Wunderbare Künstler wie Zsuzsa Koncz aus Ungarn, Alla Pugatschowa aus der Sowjetunion, Helena Vondrackova & Jiri Korn aus der Tschechoslowakei, Karel Gott, die goldene Stimme aus Prag, und viele mehr gehörten zum gewohnten DDR-Fernsehbild.

Bereits seit Ende der 1950er-Jahre zeichnete sich in der DDR der Trend einer eigenständigen Schlagerlandschaft ab. Angloamerikanische Tanzmusik war nicht mehr erwünscht. Der Rundfunk, der bis zu diesem Zeitpunkt in Westberlin ansässig war, zog in die Nalepastraße. Eigene Schlagerwertungsendungen wurden entwickelt, aus denen schließlich die legendäre Schlagerrevue hervorging, moderiert von Talente-Vater „Heinz, der Quermann“, wie er sich selbst ansagte. Um dem unliebsamen westlich geprägten Rock’n’Roll etwas DDR-Eigenes entgegenzusetzen, kreierte 1958 ein Leipziger Tanzlehrer einen ganz neuen Tanz, den Lipsi. „Heute tanzen alle jungen Leute den Lipsi-Schritt“, trällerte Helga Brauer beschwörend im 6/4-Takt. Das Lied wurde ein Hit, der Tanz verschwand in der Versenkung.

Babys mit Namen Michael

Zu den Erfolgen jener Zeit zählte auch „Oh Michael“, gesungen von Jenny Petra. Der Schlager war so beliebt, dass Mütter ihre Babys nach ihm benannten und die Single sensationelle 80.000 Mal über den Ladentisch ging. Ein Hit. Die Sängerin machte er dennoch nicht reich, da sie, wie damals üblich, nur einmalig für das Einsingen bezahlt wurde und an den Plattenverkäufen nicht beteiligt war.

Finanzielle Gewinner waren Komponisten und Texter, deren geistiges Eigentum durch die AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte) geschützt war. Dieter Schneider beispielsweise schrieb im Laufe seiner Karriere über 2000 Texte. Zu den erfolgreichsten Schlager- und Musicalkomponisten gehörte auch Gerd Natschinski. Mit seinem Sohn Thomas schrieb er den legendären Musikfilm „Heißer Sommer“, in dem Frank Schöbel und Chris Doerk – blutjung und bildhübsch – die Hauptrollen übernahmen.

Frank Schöbel_Web

Schlager flirtet mit Jazz und Chanson

Frank Schöbel begann seine Karriere – ganz ohne Scherz – am 1. April 1962 als Sänger beim Leipziger Tanzorchester für einen Stundenlohn – und das ist auch kein Scherz – von 5,10 Mark. Neun Jahre später verkaufte er mit seinem Hit „Wie ein Stern“ 400.000 Singles. Er war der erste Schlagersänger, der mit dem Nationalpreis geehrt wurde. Der Schlager, als trivial verschrieen, lockte dennoch Künstler aller Genres an: Der Chansonier Jürgen Walter begeisterte mit „Clown sein“, die Jazzsängerin Uschi Brüning holte mit „Dein Name“ den 2. Platz beim Schlagerfestival, und Manfred Krug schrieb sich unter dem Pseudonym Clemens Kerber seine eigenen Schlagertexte („Twist in der Nacht“).

Manfred Krug_WebErna kommt in den Westen

Junge Komponisten wie Franz Bartzsch, Reinhard Lakomy, Thomas Natschinski oder Arnold „Murmel“ Fritzsch widmeten sich dem Schlager. Harry Jeske, der damalige Bassist der Puhdys, schrieb für Tina den Hit „Urlaub auf dem Meeresgrund“. Und die Kabarettistin und Schauspielern Helga Hahnemann überrollte gleich die ganze Szene: „Hier kommt die Süße“ sang sie und „Ick bin een kleenet Menschenkind“. Sie starb viel zu früh mit nur 54 Jahren. Ebenso ihr Haus- und Hofkomponist, Arndt Bause. Seine musikalischen Ideen waren unerschöpflich. Häufig arbeitete er zusammen mit dem Texter Dieter Schneider oder dem Mentor der DDR-Unterhaltungsmusik Wolfgang „Pelle“ Brandenstein. Einige Ergebnisse waren „Spielverderber“ für seine Tochter, die Moderatorin Inka Bause, „Kleiner Vogel“ für Monika Herz, „Sing, mei’ Sachse, sing“ für den Kabarettisten Jürgen Hart. Für Wolfgang „Lippi“ Lippert schrieb er neben vielen anderen erfolgreichen Songs „Erna kommt“. Hugo Egon Balder coverte den Schlager 1983 und feierte damit auch im Westen Erfolge.

Bärbel Wachholz_WebWie das Land, so die Musik

In der DDR standen die Künstler im Unterschied zum Westen nicht unter Verkaufsdruck, sie hatten – im Rahmen der politischen Vorgaben – Zeit sich zu entwickeln, sich auszuprobieren. Ihre finanzielle und fachliche Unterstützung durch das „Komitee für Unterhaltungskunst“, aber auch der Drang, Ausdrucksweisen zu finden, die vom gefürchteten Lektorat nicht zensiert wurden und so die Aussage zwischen den Zeilen transportierten, brachte im Laufe der Jahre im Osten Deutschlands einen Schlager hervor, dessen musikalische Grenze fließend war. Schlagersänger vom alten Schlag waren Dagmar Frederic, Regina Thoss, Chris Doerk, Andreas Holm, Thomas Lück, Michael Hansen, Hartmut Schulze Gerlach, Olaf Berger, Hans-Jürgen Beyer, Monika Hauff & Klaus Dieter Henkler („Auf die Bäume, ihr Affen“), Kerstin Roger u.v.a.

Andere Künstler wollten ihre Musik vorrangig als das sehen, was das Wort „Schlager“ auch bedeuten kann: Glanzstück! Reißer! Erfolgsnummer! Da waren Jörg Hindemith („Bitte, bitte, Hanni“), Veronika Fischer („Auf der Wiese haben wir gelegen“), Ralf Bursy („Kalte Augen“), Wolfgang Ziegler („Verdammt“), Ute Freudenberg („Jugendliebe“), Angelika Mann („Champus-Lied“), Kirsten („Tausend kleine Mädchen“), Gaby Rückert („Berührung“), Beppo Küster („Absolute Stille“), Gerd Christian („Sag ihr auch“) u.v.a. Entertainer Arnulf Wenning holte 1988 mit seiner „Eisdame“ gar den Sieg beim letzten Dresdener Schlagerfestival. Sie alle standen für einen neuartigen Schlager, der sich freudig aller Stilmittel bediente, spannend, witzig, intelligent, anders… Ein Schlager, den es so nur in der DDR gab. Ein Stück Geschichte, wie auch das Land, in dem er entstand.


HÖRTIPPS
In der Serie „Die Musik unserer Generation“ entdecken Sie die größten Hits von Frank Schöbel, Veronika Fischer u.v.m. und bekommen einen Eindruck von der Artenvielfalt im Ost-Schlager.

HelgaBrauer_MUGHelga Brauer
Die größten Hits
Ihre Art war erfrischend und kess: Helga Brauer war 1959 die Botschafterin des Lipsi-Schritts, landete Hits wie „Heute spielt der Konstantin Klavier“ oder „Mister Brown aus USA“ und gewann 1966 mit „Schlaf, mein kleiner Johnny“ den DDR-Schlagerwettbewerb.

 

88843028162_2_WebFrank Schöbel
Die größten Hits
Die Vielfalt in Person: Frank Schöbel ist Sänger, Komponist, Texter, Produzent, Schauspieler, Buchschreiber und Moderator. Dementsprechend facettenreich auch die Sammlung seiner größten Hits aus der Reihe „Musik unserer Generation“.

 

Ute FreudenbergUte Freudenberg
Die größten Hits
Ute Freudenberg ist eine der beliebtesten Sängerinnen der DDR: Mit „Jugendliebe“ singt sie den Song, der zum beliebtesten DDR-Hit aller Zeiten gekürt wurde. Diese Zusammenstellung mit allen AMIGA-Erfolgen und ihren Konzert-Highlights zeigt Utes wandlungsfähige, ausdrucksstarke Stimme in voller Pracht.

 

VeronikaFischer88843028152_2Veronika Fischer
Die Amiga-Hits 1973 – 1981
In den Titeln von Veronika Fischer verschmelzen Rock und Pop, Chanson und Jazz auf einzigartige Weise zu einem ganz eigenen Stil. Kein Wunder, denn die Thüringer Blondine schloss ihr Musikstudium mit dem Staatsexamen als Solistin für Chanson und Musical ab.

 

Helga Hahnemann MuG VSHelga Hahnemann
Die größten Hits
Unvergessen, die Helga Hahnemann: Sie war eine großartige Sängerin, Entertainerin und Schauspielerin. Und auch über ihren Tod hinaus wird sie noch von vielen verehrt und ihre Musik geliebt.

 

Krug MuG VSManfred Krug
Die größten Hits
Manfred Krug – eines der bekanntesten Multitalente: Seine Hits sprechen eine intelligente Sprache und sind ein über alle Grenzen, Genres und Altersklassen verbindendes Element. Kurz gesagt: große Unterhaltung!

 

Bärbel Wachholz MuG VSBärbel Wachholz
Die größten Hits
Mit ihrem Titel „Das kann ich niemals vergessen“ siegte Bärbel Wachholz 1962 beim ersten Internationalen Schlagerfestival der Ostseeländer in Rostock und wurde noch im selben Jahr mit dem Kunstpreis der DDR ausgezeichnet. Leider verstarb auch sie viel zu früh – dennoch werden wir sie niemals vergessen.

 

Electra die größten Hits Amiga SchallplattenElectra
Die größten Hits
Electra gehört mit ihrer über 45jährigen Geschichte zu einer der ältesten Gruppen der ehemaligen DDR. Der Titel “Tritt ein in den Dom” und Meilensteine wie “Die Sixtinische Madonna” bleiben unvergessen.

 

Monika Herz die größten Hits Amiga SchallplattenMonika Herz
Die größten Hits
Ihre größten Erfolge feierte Monika Herz mit Titeln wie “Kleiner Vogel”, “Charly adé” oder “Hallo wie geht’s”.